Zweifle nicht an dem, der dir sagt, er hat Angst,
aber hab Angst vor dem, der dir sagt, er kennt keinen Zweifel.

Erich Fried: Angst und Zweifel, aus: Gegengift, 1974

Pro:

Vertrautheit mit der Organisation der Zeugen Jehovas von Kindheit an sowie Idealismus

Durch den aktiven Glauben, deutlich gemacht durch das ehrenamtliche Predigtwerk, hatte ich die Gelegenheit, Menschen zu helfen, wieder über Gott, die Zukunft, den Sinn des Lebens und über die persönliche Lebensqualität nachzudenken und Änderungen vorzunehmen. Die Feststellung, daß das Predigtwerk die Lebensqualität vieler verbessert hat, wirkte anspornend, mein Hauptaugenmerk weiterhin darauf zu richten. Weiterhin bestand die für mich horizonterweiternde Möglichkeit, tatsächlich die verschiedensten Menschen und deren Ansichten kennenzulernen.

Gemeinschaftsgefühl in Verbindung mit weltweiter Verbundenheit (nationale und internationale Kontakte unter anderem durch Kongresse) sowie die Möglichkeit, innerhalb einer familiären Gemeinschaft Liebe und Wärme zu geben und auch zu empfangen.

Befriedigung des Bedürfnisses nach Religiosität beziehungsweise Spiritualität auf der biblischen Grundlage einer vorstellbaren Zukunftshoffnung und einer Sinnfindung in der Gegenwart

Nüchternheit, Disziplin und Ordnung im Ablauf der Zusammenkünfte und auf Kongressen (keine Verehrung von Bildern oder anderer heiliger Gegenstände, außer dem Mustergebet keine formalen Gebete, keine besonderen Kleidungsstücke oder Plätze für Personen in verantwortlichen Stellungen), Freiwilligkeit und Anonymität der Spenden, biblische Belegbarkeit der Lehren der Zeugen Jehovas und keine Überbewertung sozialer Schichten, der Nationalität, Rassenzugehörigkeit, akademischer Grade oder einer Karrierelaufbahn

Trotz so mancher Kritikpunkte gab es meiner Meinung nach vergleichsweise tatsächlich "Schlimmeres" als die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas und die negativen Erfahrungen sowie Gegenargumente von Ex-Zeugen betrachtete ich allesamt als Einzelfälle. Kritik aus der "Welt" bewertete ich mit großer Distanz, da diese Personen von ganz anderen Prämissen ausgingen und damit keine entsprechend fundierten Aussagen machen konnten. Was hatte beispielsweise weltliche Demokratie denn schon mit Theokratie zu tun?!

Weiterhin hatte ich, wie viele andere kritischere Zeugen auch, die Hoffnung und das Gottvertrauen, daß dringend notwendige Änderungen schon zur rechten Zeit eingeleitet werden würden und zwar nicht von außen, sondern von innen.

Meine persönliche Aufgabe sah ich darin, eine liberalere Einstellung geltend zu machen, der hierarchischen Struktur sowie den starken fundamentalistischen Tendenzen innerhalb der Organisation mildernd entgegen zu treten, ohne dabei andere "zum Straucheln" zu bringen und an Ort und Stelle denjenigen zu helfen, die unter dem rigiden System litten. Eine große Stütze war mir dabei nach meiner Heirat mein Mann, welcher sein Amt als Ältester entsprechend zu nutzen wußte. Gemeinsam zogen wir in ein "Hilfe-Not-Gebiet" und zusammen mit anderen liberal eingestellten Zeugen war es unser Ziel, die Organisation gemäß unseren Möglichkeiten zu reformieren.

Letztendlich gilt es auch, die begründete Angst vor der starken Belastung zu erwähnen, die bei einer Distanzierung von der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas unweigerlich auf den einzelnen zukommt. In diesem Falle gilt es, mit dem Verlust fertig werden, alles, auch das Vertraute und Geliebte, für immer verloren zu haben und gleichzeitig ein komplett neues Leben aufbauen zu müssen. In dem Glauben der Zeugen Jehovas aufgewachsen, war für mich ein annähernd adäquates "Leben in der Welt" einfach nicht vorstellbar. So tief war ich darin verwurzelt.

Kontra:

Hier die Punkte, die dazu führten, daß ich mich nach 27-jähriger Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas schließlich endgültig von dieser Organisation distanzierte:

Alleinvertretungsanspruch

Anspruch der Zeugen Jehovas, auf Erden die einzig "wahre Religion" zu sein, welche trotz Unvollkommenheit allein des Segens Gottes und seiner Leitung sicher sein kann. Außerhalb dieser Gemeinschaft sei der Mensch ohne Gottes Schutz der Willkür Satans ausgeliefert und "auf dem breiten Weg in die Vernichtung durch Gott".

Dazu gehört auch die Behauptung der Zeugen Jehovas, daß Gebet und Meditation unbedingt mit der "einzig wahren" Religionsgemeinschaft verbunden sein müßte, um überhaupt von Gott wahrgenommen zu werden. Auch spirituelles und persönliches Wachstum soll einzig und allein von der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas abhängen. Die leitende Körperschaft bezeichnet sich ungerechtfertigterweise als "Kanal Gottes" und mißbraucht ihre Macht, indem sie entsprechenden Gehorsam fordert, wodurch der Naivität bei Gläubigen Vorschub geleistet wird.

Beim (geänderten) Taufgelübde gibt sich der Täufling nicht allein Gott hin, sondern muß auch die Organisation der Zeugen Jehovas als einzig wahren Kanal Gottes anerkennen und diesem Gehorsam geloben.

Zwang zur Freiwilligkeit

(Es wird jedem Zeugen Jehovas unmißverständlich klar gemacht, was von ihm erwartet wird und welche Konsequenzen Zuwiderhandlungen genau haben. Fast parallel dazu erfährt dieser aber, daß er diese oder jene Entscheidung bitte schön "freiwillig" und gemäß "seinem Gewissen" zu entscheiden hat. Das ist reiner Hohn!)

Zweierlei Maß in bezug auf politische Neutralität

Pharisäertum

(siehe Jesu Worte in Matthäus 23... Besser kann man es nicht ausdrücken!)

Unterminierung der Rolle Jesu Christi und damit auch seiner Lehre von Barmherzigkeit, Güte, Liebe und Toleranz

Informationsmonopol

Auf Dauer zu begrenztes und einseitiges Angebot an "geistiger Nahrung"

(Einem Neuling mag das Glaubensmodell der Zeugen Jehovas zu Beginn sehr umfassend erscheinen. Für jemanden wie mich, die in diesem Glauben aufgewachsen ist, ist alles irgendwann nur noch Wiederholung. Da es getauften Zeugen offiziell untersagt ist, glaubensmäßig "vorauszueilen", sind die vielen Zusammenkünfte dann nicht mehr sehr gewinnbringend. Selbst beim sogenannten persönlichen Studium sind die Grenzen des "Forschens in den Schriften" eng gesteckt. Dieses Studium soll dazu dienen, die Bibelinterpretationen der WTG zu vertiefen. Eigens zu diesem Zweck wurden von der Organisation der Zeugen Jehovas Nachschlagewerke gefertigt, die ihre Sicht der Dinge selbst bei so einem "tiefen Studium der Bibel" bestätigen. Auf keinen Fall soll das persönliche Studium oder gar hinzugezogene "weltliche" Literatur dazu dienen, die Bibel anders zu interpretieren, konträre Schlüsse zu ziehen oder die Organisation der WTG zu kritisieren. Das wäre "gefährliches unabhängiges Denken".)

Extremes Endzeitdenken

(Dieses Endzeitdenken bewirkt, daß Menschen alles daran setzen, die verbleibende "Zeit des Endes" in der Weise zu nutzen, um schließlich von Gott gerettet zu werden und sich mit ständiger Wachsamkeit bemühen, "das Ziel" im Auge zu behalten. Nicht wenige leiden unter typischen Managerkrankheiten. Manchmal kamen mir diese Menschen wie Lasttiere vor, denen, um sie in Bewegung zu halten, ständig eine verlockende Möhre vor die Nase gehalten wird, aber ohne sie jemals zu bekommen. Für Ruhe, Geduld, Gelassenheit, Hobbys, Ausgelassenheit, höhere Bildung, Selbstfindung und ähnliches bleibt da wenig bis keine Zeit. Nur Zeugen Jehovas, die eindeutig ernsthaft erkrankt sind oder eben ein hohes Alter haben, werden weniger unter Druck gesetzt. Aber diese sind in der Regel nicht mehr in der Lage, sich außer um ihre Krankheit um die schönen Dinge des Lebens zu kümmern.)

Überbetonte Darstellung eines strafenden Gottes

Überbewertung des Predigdienstes

(Alternative, gleichwertige christliche Tätigkeiten {zum Beispiel im sozialen Bereich} werden nicht angeboten beziehungsweise nicht als gleichwertig anerkannt. Personen, die, aus welchen Gründen auch immer, zu wenig in den Predigdienst gehen, wird deutlich gesagt, daß sie auf diese Weise im biblischen Sinne "Blutschuld" auf sich laden und so wird entsprechender Druck auf das bei aktiven Zeugen sowieso schon recht empfindliche Gewissen ausgeübt. Das Ergebnis ist mangelhafte bis ungenügende "Bestandspflege" innerhalb der Versammlungen.)

Kontrolle

Fleiß- und Glaubenskontrolle durch den persönlichen und nicht anonymen monatlichen Predigdienstberichtzettel

Zweiklassengesellschaft

(einmal bestehend aus einer kleinen, zahlenmäßig kontrollierten Minderheit, die sich von Gott direkt berufen fühlt, nach dem Tode eine königliche Regentschaft im Himmel {als "Braut Christi"} zu übernehmen und der Mehrheit, die hofft, in baldiger Zukunft unter paradiesischen Verhältnissen unter dieser Regierung ewig auf der Erde leben zu dürfen. In der Gegenwart fühlt sich diese Minderheit als "leitende Körperschaft" und "treuer verständiger Sklave Gottes" für den Glauben der Mehrheit der Zeugen Jehovas sowie für die Bekehrung der Ungläubigen verantwortlich und von Gott persönlich dazu angeleitet. Wobei die "leitende Körperschaft" dabei den eigentlichen Machtfaktor darstellt.)

Ausschluß (Gemeinschaftsentzug) von ungetauften Verkündigern sowie Ausschluß für Handlungen, die einer deutlichen biblischen Belegbarkeit entbehren. Unwürdige bis menschenverachtende Behandlung von Ausgeschlossenen, die einer entsprechenden biblischen Grundlage entbehrt

Geschichtsfälschung

Veränderung historischer Daten, um eigene Endzeitrechnungen zu belegen (z.B. das Jahr 607 v.Chr., um das Jahr 1914 n.Chr. belegen zu können)

Fundamentalistische Interpretation der Bibel.

Die symbolische und buchstäbliche Deutung biblischer Aussagen ist logisch oft nicht nachvollziehbar (z.B. die buchstäbliche Interpretation der in der Offenbarung erwähnten 144.000)

Willkürliche Auslegung der Bibel

Mißbrauch oder Überbetonung biblischer Aussagen, um die eigene Lehre zu untermauern (z.B. Gehorsam und eine demütige Haltung gegenüber einer angeblich 'einzig wahren' Organisation) Engstirnige und wechselhafte Interpretation von biblischen Prophezeiungen und anderen Aussagen, die den Gläubigen als anzunehmendes "neues Licht" verkauft werden (temporärer Dogmatismus)

Blutfrage

Überzogene Einstellung zur Aufnahme von Blut in Verbindung mit der durchorganisierten Kontrolle der Gläubigen, ob diese dem Verbot, Blut in sich aufzunehmen, auch Folge leisten

Aalglatte Argumentationsweisen

(Es ist schwer, gegenüber einem rhetorisch geschulten Zeugen Jehovas Gegenargumente plausibel zu machen. Biblische Aussagen und Zitate werden aus dem Zusammenhang gerissen oder in einem gar nicht vorhandenen Zusammenhang zitiert, um die Richtigkeit der Aussagen der Zeugen Jehovas zu belegen. Kritikwürdige Situationen in der Welt und bei anderen religiösen Gemeinschaften werden in übertriebener Weise herausgestellt, um die so viel besseren Verhältnisse in der kleinen Gruppe der Zeugen Jehovas anzupreisen. Kritikwürdige Verhältnisse bei den Zeugen Jehovas dagegen werden als ganz natürliche menschliche Schwäche oder Ausnahme interpretiert. Systematisch werden Menschen auf ihre innersten Unsicherheiten gestoßen, um ihnen dann die Sicherheit der allein wahren Religion der Zeugen Jehovas anzubieten.)

Gruppendruck

Extreme Konformitätszwänge und moralische Erpressung bis hin zu Drohungen, damit der geforderten Norm entsprochen wird sowie Unbarmherzigkeit und Härte sobald innerhalb der Versammlung kritische Fragen anklingen

(Strafmaßnahmen: Ausschluß, öffentliche Zurechtweisung, Gekennzeichnetsein, Gottes Schutz- und Segensentzug oder eine Vernichtung durch ihn etc.)

Bedingungsliebe

(Die Liebe Jehovas zum Menschen ist davon abhängig, ob sich der einzelne auch genügend für die Organisation der WTG einsetzt und deren wechselhafte Bibelinterpretationen entsprechend loyal vertritt. Für Zuwendung wird der hohe Preis der eigenen Freiheit gefordert. Liebe wird pervertiert, indem sie zugeteilt oder verweigert wird, um zu kontrollieren und Macht auszuüben.)

Pauschale Leistungszwänge

(Unter der Prämisse, daß der Mensch im Grunde sehr faul und träge sei, wird angenommen, daß dieser ständig Ermahnungen, Ansporn, Kontrolle und 'Ermunterung' benötige, um sich für das "ewige Leben" zu qualifizieren. Religion sollte meiner Meinung nach aber gerade ein Ort der Annahme, des Friedens und der Ruhe sein und keine Art von Hochleistungssport. Das Leben birgt doch so schon Probleme genug.)

Negatives Menschenbild

Insgesamt zu negative Grundeinstellung zum Menschen als sündigem Geschöpf, das die Anerkennung Gottes weder geschenkt bekommt, noch diese trotz äußerster Anstrengungen letztendlich wirklich verdienen kann

Der "perfekte, weil neue Mensch"

Zwang zum Glücklichsein, Hang zum Perfektionismus und ein sektiererisches Verständnis von Loyalität, um den Namen Jehovas nicht zu beschmutzen, Satan Lügen zu strafen und vor der "Welt" durch christliches Verhalten ein gutes Zeugnis für den "einzig wahren Glauben" abzulegen.

(Der ständige Konflikt zwischen den überhöhten Anforderungen bei den Zeugen und der persönlichen Realisierbarkeit läßt nicht wenige Zeugen Jehovas eine Art von Doppelleben führen. Andere, und das sind gemäß meiner Erfahrung nicht wenige, ertragen die ständige Überforderung nicht mehr, so daß sie heimlich zu dem Allround-Tröster Alkohol greifen und/oder unter schweren Depressionen leiden).

Entwicklungsbeeinträchtigung

Ungenügende Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb und erst recht außerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas

Streng dualistisches Weltbild

Neigung, "Satan und seine Dämonen" für Mißstände verantwortlich zu machen, die definitiv in der Verantwortlichkeit des einzelnen liegen

Strenge Hierarchie

Ungenügender Handlungsspielraum für Personen in verantwortungsvollen Positionen (viele Pflichten aber kaum Rechte), geschweige denn für "normale Verkündiger"

Aufgrund der hierarchischen Struktur und der Machtinteressen einer klerikalen Minderheit innerhalb der Organisation lässt sich so gut wie nichts bewegen, auch wenn dies noch so sanft und vorsichtig geschehen mag. Überängstlich auf den "Frieden in der Versammlung" bedacht, werden kritische Gedanken schnell als bedrohlich empfunden, mit gefährlichem Sektierertum in Verbindung gebracht und dementsprechend behandelt. Als Frau besteht, wenn überhaupt sowieso nur die Möglichkeit, so indirekt wie nur irgend möglich zu agieren.

Isolierung vom normalen weltlichen Geschehen

(Engere Kontakte außerhalb der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas sind unerwünscht und in Schule und Beruf, sind sie auf ein Mindestmaß zu beschränken. Der Kontakt zu Andersdenkenden im Predigdienst erfolgt offiziell nur zum Zwecke der Bekehrung) Ablehnung 'zeitaufwendiger' Hobbys oder aller allzu regelmäßiger sportlicher Tätigkeiten (religiöse Pflichten, insbesondere der Predigdienst, haben grundsätzlich Vorrang)

Diskriminierungen aufgrund des Geschlechtes

(Bei den Zeugen steht die Frau nicht gleichwertig neben dem Mann, sondern gilt als seine Gehilfin, welche prinzipiell männlicher Führung bedarf. Der Mann hat bei den Zeugen grundsätzlich Vorrang vor der Frau. Er sollte die Frau, wenn sie sich schön artig fügt, in ihrer untergeordneten Rolle aber möglichst liebevoll behandeln. Bei dem "Grundsatz von der Leitung durch ein Haupt" handelt es sich um eine spezielle Bibelinterpretation der Organisation der Zeugen Jehovas, die sich bis in die privatesten Bereiche hineinzieht. Wenn es tatsächlich eine grundsätzliche, männliche Überlegenheit gäbe, wäre eine solche Rollenverteilung verständlich. Dagegen spricht aber definitiv die Realität. Mann und Frau ergänzen sich zwar wunderbar, aber keiner ist dem anderen grundsätzlich überlegen. Vielen Frauen und Männern bei den Zeugen Jehovas kommt diese hierarchisch patriarchalische Regelung aus den verschiedensten Gründen durchaus gelegen, so daß sie gar nicht auf die Idee kommen zu opponieren und/oder die Unterdrückung der Frau geradezu forcieren. Andere, und zwar nicht nur Frauen, leiden unter diesem starr festgelegten Rollenverständnis. Echte Partnerschaft und wirkliches Erwachsen werden sind unter diesen Bedingungen eben nicht möglich.)

Rigider Umgang mit Kindern

Mangelhaftes Engagement für Kinder und Jugendliche in den Versammlungen (insbesondere Tätigkeiten betreffend, die über den Predigdienst hinausgehen) Kinder von Zeugen Jehovas müssen schon von frühester Kindheit an wie Zeugen Jehovas leben (Predigdienst sowie Auftreten in der Schule), obwohl sie nicht getauft sind.

Verängstigung der Kinder von Zeugen Jehovas zu erzieherischen Zwecken (Bedrohung durch Satan und seine Dämonen, dem Kommen der "Großen Drangsal" und der Vernichtung durch Gott in Harmagedon)

Obwohl Kindesmißhandlung in der WTG-Literatur verurteilt wird, sind die Grenzen körperlicher Züchtigung, sprich elterlicher Gewalt, zu weit gesteckt. Die "Rute der Zucht" ist laut Bibel dabei ein wirksames Mittel. Auf der biblischen Grundlage, daß "Torheit an das Herz eines jeden Kindes geknüpft sei", wird weniger normgerechten Kindern kontinuierlich der Wille und nicht selten auch das Rückrad gebrochen.

Verantwortungsbewußte Zeugen-Eltern handeln gemäß ihrem Verständnis von Liebe auf diese Weise, weil sie ihre Kinder vor einer Vernichtung in Harmagedon bewahren und mit diesen gemeinsam in das "Neue System" gelangen möchten.

Selbstverständlich gibt es Eltern, die sich im Alltagsleben weniger streng an die Ratschläge der WTG bezüglich Kindererziehung halten, so daß deren Kinder ungezwungener aufwachsen als Kinder von linientreueren Zeugen. Es gilt dabei aber darauf hinzuweisen, daß diese in nicht unerhebliche Schwierigkeiten geraten, sobald die zuständigen Stellen innerhalb der Versammlung auf irgendeine Weise von dem nicht konformen Verhalten erfahren.

Ablehnung höherer Bildung

(Dies gilt hauptsächlich für Kinder, die im Glauben der Zeugen Jehovas aufwachsen und für die Lebensphase nach der Taufe. Ansonsten wird es natürlich gern gesehen, wenn sich Akademiker bekehren lassen. Das dient dem allgemeinen Ansehen der Zeugen Jehovas. In Anbetracht der Endzeit soll es für Zeugen Jehovas wichtiger sein, die verbleibende Zeit dem Predigtwerk zu widmen. Außerdem "verleitet" höhere Bildung zu kritischem Denken, welches innerhalb der Organisation als "Rebellion gegen Jehova" angesehen und entsprechend geahndet wird.)

Gesundheit

Nicht wenige Zeugen aufgrund der rigiden Glaubensstruktur, der sie unterworfen sind, erkranken seelisch und körperlich oder leben von sich selbst entfremdet. Letztere wirken nicht selten wie aufgezogene mechanische Puppen oder freundlich lächelnde Marionetten. In ihrem sicherlich aufrichtigen Bemühen, "auf dem Weg der Wahrheit zu wandeln", ist ihnen in keiner Weise bewußt, auf welche Weise das organisierte System der WTG eine ständige Bewußtseinskontrolle durchgeführt und sie zunehmend instrumentalisiert.

Indem Jehovas Zeugen Schuldgefühle, Angst und Furcht, Scham, die ständige Sorge um die Annahme Gottes und die eigene Errettung in Harmagedon, die Minderwertigkeit des sündigen Menschen, Unterwürfigkeit, Selbstverleugnung, Ausharren und Gehorsam fördern und fordern, unterdrücken ja verteufeln sie alle Bemühungen, die ein tatsächlich persönliches Verhältnis zu Gott, echte Eigenverantwortung, selbständiges Denken und Handeln, Geltendmachen der eigenen Stärke, ein gesundes Verhältnis zwischen Selbst- und Nächstenliebe, Selbstverwirklichung und -vertrauen, partnerschaftliche Gleichbewertung beider Geschlechter sowie ein wirklich tolerantes Miteinander betreffen.

Es ist nicht möglich, sich aus den aktiven Wirkungsbereichen bei den Zeugen Jehovas an den passiveren Rand der Organisation zurückzuziehen und ansonsten zu schweigen, um nicht alles zu verlieren. Im Gegensatz zu den Landeskirchen ist dieser tolerante Randbereich eben nicht gerade breit.

Da alle aktiven Zeugen Jehovas durch den Predigdienst öffentliche Repräsentanten der Organisation der Zeugen Jehovas sind, entstehen bei nicht genügender Konformität unausweichlich Konflikte. Es gibt einen Punkt, an dem Toleranz, Akzeptanz, Anpassung und, wie es Jehovas Zeugen ausdrücken, ein sogenanntes "Warten auf Jehova" in Heuchelei übergeht und man beginnt, fruchtlos "gegen Windmühlen zu kämpfen", wenn nicht gravierende Änderungen im Leben vorgenommen werden. An diesem Punkt war ich angelangt. Wie konnte ich da weiterhin im allgemeinen Pionierdienst stehen, Menschen die Gemeinschaft der Zeugen Jehovas wärmstens empfehlen oder gar weiter planen, in den Missionardienst zu gehen?!


Die meisten Kritikpunkte für sich allein betrachtet wären kein Grund gewesen, der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas und damit auch allem bisher Vertrauten und Geliebten den Rücken zu kehren. Gleichgültig welcher Organisation man auch angehören oder mit welchen Menschen man eine Beziehung eingehen mag, so gehören Fehler und Schwächen ganz natürlich dazu. Institutionen haben eben ihre eigene Dynamik. Es wäre unrealistisch und unvernünftig, von unvollkommenen Menschen eine vollkommene Organisation zu erwarten.

Es war aber die Summe der Kritikpunkte und deren Komplexität in Zusammenhang mit der eigenen Natur, die schließlich ausschlaggebend für den Rückzug waren.

Meine persönliche Einstellung heute:

Die große Krise, die mit dem Verlust der vertrauten Gemeinschaft der Zeugen Jehovas und der damit verbundenen Lebensführung verbunden war, habe ich inzwischen nach sehr harten Kämpfen und vielen Tränen überwunden. Im Gegensatz zu mir hegte mein Mann aufgrund seiner Position einige Zeit länger als ich die Hoffnung, innerhalb der Organisation notwendige Änderungen anstrengen zu können und ermunterte mich immer wieder, ihn dabei doch weiterhin zu unterstützen. Dazu war ich reinen Gewissens aber nicht mehr in der Lage. Schließlich legte er nach vielen Überlegungen sein Amt bis auf weiteres nieder und gewann auf diese Weise Distanz zum Glauben der Zeugen Jehovas. Heute kann er sich nicht mehr vorstellen, dorthin zurückzukehren.

So haben wir damit begonnen, das neu gewonnene Leben zu festigen und auszubauen. Der Glaube der Zeugen Jehovas wird auf irgendeine Weise immer ein Teil unseres Lebens bleiben, hat daran aber keinerlei Mitbestimmungsrecht mehr. Es gilt, das Beste aus dem zu machen, was man mitbekommen hat.

Ich glaube an ein Höheres Wesen, eine höhere Macht, an Gott den Schöpfer aller Dinge unabhängig von jedweder religiösen Gemeinschaft. Dieser Gott ist für uns Menschen weder gänzlich erfaßbar noch genau definierbar aber für jeden einzelnen ganz individuell erfahrbar. Organisationen betrachte ich als menschliche Konstrukte, die dem Menschen dienen und nicht über ihn herrschen sollten. Erfüllen diese, wie es bei den Zeugen Jehovas bedauerlicherweise der Fall ist, eben nicht mehr ihre eigentliche Funktion, gilt es, sich einem solchen System zu entziehen. Eine Kategorisierung der Welt in eine zweigeteilte Schwarz-Weiß-Welt wie bei den Zeugen Jehovas entspricht nicht einmal annähernd der Realität. Gesetze und Regeln sollten in einem natürlichen dynamischen System immer wieder ergänzt, überarbeitet, neu bewertet, relativiert und auch verworfen werden können. Erstarrt der Mensch in Regeln, Gesetzen oder auch in religiösen Organisationen, so zerstört er sich damit letztendlich selbst. Lebendige Grundsätze sollten Vorrang haben! Einen erfüllten Sinn im Leben findet der Mensch, wenn er unter Berücksichtigung der Einbindung in die verschiedenen Systeme und deren Wechselwirkungen seine individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten verantwortungsbewußt einzusetzen weiß.

Zum Schluß ein Herzenswunsch:

Federleicht und doch felsenfest, vogelfrei und doch hautnah, beflügelt und doch verwurzelt.