3. Deutung und Bewertung des religiösen Widerstands

Ein religiöses Deutungsmuster ergibt sich aus den endzeitlichen Glaubensvorstellungen der Zeugen Jehovas. Hitlers Reich deuteten sie als dämonisches Vordringen Satans und seiner Armee. Ihr Widerstand dagegen bedeutete Kampf gegen Satan für Jehova - als dessen Apostel, Zeugen und Nachfolger sie sich sahen. Gott hatte sie zu diesem Widerstand beauftragt, bereits in der Apokalypse war der Kampf gegen das Böse vorausgesagt und nun erfüllte sich die biblische Prophezeiung für sie. In ihrer Verfolgung sahen sie kein Gottesgericht, sondern den Endkampf (Harmagedon) für das verkündete Tausendjährige Reich. Es war ein Kampf der Gerechten gegen den Antichrist und sein ebenfalls verkündetes Tausendjähriges Reich der Finsternis, gleichsam eine Spiegelung und Versuchung Satans, der es zu widerstehen galt.

Für die bibelfundamentalistischen Zeugen Jehovas war es eine Versuchung Satans, die rettende Erklärung unterschreiben, die die Verleugnung ihres Glaubens verlangte und dafür die Freiheit aus dem Konzentrationslager anbot. Es mußte ihnen wie die Versuchung Jesu im Neuen Testament erscheinen, wo Satan fordert:

"Wenn du mich anerkennst und Jehova absagst, wirst du in der irdischen Welt leben können, sonst bleibst du in meiner Macht"

Im Gegensatz zu den Juden als dem auserwählten Volk Gottes durch den Alten Bund, sahen sich die Zeugen Jehovas auserwählt durch Annahme des wahren Glaubens als freiem Willensakt, der den Neuen Bund mit Gott begründete. Hierin lag der Unterschied zur jüdischen Interpretation des Holocaust als unverstehbarer Prüfung und unentrinnbarem Strafgericht Gottes.

Als in Deutschland 1943 und 1944 die Städte mit Bombenteppichen in Schutt und Asche zerfielen, als am Ende des Krieges die Untaten Hitlers und seiner Anhänger zutage kamen, die überlebenden Häftlinge der befreiten Konzentrationslager, das Grauen der Gaskammern und Verbrennungsöfen, Berge von Menschenhaaren, Zähnen und Knochen der Weltöffentlichkeit in internationalen Wochenschauen gezeigt wurden vor den rauchenden Trümmer der zerstörten Großstädte Deutschlands, da war die endzeitliche, apokalyptische Vorstellung der Zeugen Jehovas Realität geworden. Die Zerstörung Deutschlands, die Vernichtung von sechs Millionen Juden hatten ein metaphysisches Ausmaß erreicht.

Für die überlebenden Zeugen Jehovas war die finale Schlacht Harmagedon gewonnen. Sie hatten aus ihrer Sicht siegreich und standhaft für Jehova gekämpft. Hitler und seine Dämonen waren mit Jehovas Hilfe besiegt worden. Anders als die großen Kirchen hatten sie nur "einem Herrn" gedient, waren sie trotz vieler Opfer aus dem Chaos des Untergangs hervorgegangen.

Anders als die Juden sahen sie einen Sinn in ihrer Verfolgung, dem Leiden und dem aktiven, aber gewaltlosen Glaubenskampf. Ihre Glaubensgemeinschaft hatte in vollkommener moralischer Integrität die NS-Herrschaft überlebt. Ein kurz nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes abgefaßtes Dokument zeigt, daß dies auch der Sichtweise von Zeugen Jehovas selbst entsprach. Der Bibelforscher Franz Kusserow (1882-1950), der unter den Nationalsozialisten sieben Jahre und vier Monate inhaftiert gewesen war und erst 1945 befreit wurde, schrieb kurz nach Kriegsende an den NS-Vormundschaftsrichter, der ihm das Sorgerecht für drei seiner Kinder entzogen hatte:

So standen sich 2 Glaubens- und Weltanschauungen gegenüber: die nationalsozialistische Idee, aufgebaut auf unvollkommenen Gesetzen von unvollkommenen Menschen einerseits, auf der anderen Seite die Glaubenseinstellung von Gott treu ergebenen Menschen aufgrund der vollkommenen Gesetze Gottes.

Welche Welt- und Glaubenseinstellung wird siegen? Auch endgültig? Der Nationalsozialismus liegt bereits am Boden. Deren Garanten mit ihren schwülstigen und ruhmreichen Prophezeiungen, heutige Jammerlappen als Verbrecher gestempelt. Es waren jene Gesetzgeber, die das Forschen in der Hl. Schrift als Verbrechen bezeichneten, treue Gottesmänner in Zuchthäuser, Lager und Gefängnisse brachten, nur darum, weil sie nach den Richtlinien Gottes dachten und handelten. Welcher Glaube wird siegen? die Antwort der Hl. Schrift ist, "der Glaube, der die Welt überwunden hat".

Quelle: Brief von Franz Kusserow vom 3.12.1945 an Dr. Isphording, Salzkotten