4. Die Erklärung vom 25. Juni 1933: eine Textanalyse

Wenige Monate nach der Machtübernahme Hitlers wurde den Zeugen Jehovas in verschiedenen Ländern des Reiches, so in Bayern und Sachsen, auf Grund der Verordnung vom 28.2.1933 zur "Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" und "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung "die Tätigkeit verboten. Am 24. bis 29. April 1933 besetzten Polizei und SA die Wachtturm-Druckerei in Magdeburg (Preußen), die vorübergehend wieder freigegeben, Ende Juni aber endgültig geschlossen wurde. Wenige Wochen später verbrannten die Nationalsozialisten 25 LKW-Ladungen dort gedruckter religiöser Literatur.

Da sich die Lage der Zeugen Jehovas zusehends verschlechterte, am 24. Juni war auch ein Tätigkeitsverbot in Preußen erlassen worden, beschloß die Watch Tower Society in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Zweigbüro am 25. Juni 1933 einen Kongreß in Berlin-Wilmersdorf durchzuführen. Von den 7.000 Teilnehmern wurde eine Erklärung verabschiedet, die sich gegen die falschen Beschuldigungen einer staatsgefährdenden Tätigkeit wendete und die strikte politische Neutralität der Glaubensgemeinschaft unterstrich. Diese Resolution wurde als Eingabe oder Petition zusammen mit einem Schreiben an den Reichskanzler Adolf Hitler adressiert. Von den Kirchen in Deutschland wird der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas heute der Vorwurf gemacht, daß diese Erklärung eine "Anbiederung" an Hitler und seinen NS-Staat gewesen sei, daß es darin antisemitische C4ußerungen gäbe. Erst nach dem Scheitern dieser Annäherung hätten die Zeugen Jehovas sich gegen das NS-Regime aufgelehnt. Die Vorwürfe gipfeln in der Behauptung, durch diese Haltung hätte die amerikanische Watch Tower-Zentrale und ihr Präsident J.F. Rutherford die deutschen Zeugen Jehovas bewußt geopfert und ihnen die Märtyrerrolle zugeschoben.

Eine Textanalyse des Dokumentes setzt sich mit diesen Vorwürfen auseinander:

Die Auszüge und Passagen erwecken den Anschein, als würde es in erster Linie um eine Rechtfertigung, Annäherung an das NS-System und antijüdische Haltung gehen. Dies ist aber eine Verfälschung der Tatsachen. Das Dokument ist von einem säkularen Standpunkt aus Predigt und Mission an den Adressaten, den Reichskanzler Hitler selbst. Es ist eine klare Absage an jegliche weltliche Macht, aber es unterstellt suggestiv, daß Hitler selbst das Gut will, wollen muß. Falls aber nicht, dann gehörte der Reichskanzler und Führer des deutschen Volkes dem Reiche Satans an; dann war Hitler der Feind Jehovas und seiner Zeugen. Diese direkten Ausführungen ließen nur zwei Schlußfolgerungen für den Reichskanzler zu: daß es sich hier um kollektive Wahnvorstellungen einer religiösen Gemeinschaft handelte oder um eine aberwitzige, dreiste Kampfansage eines biblischen Davids an Goliath.

Während die mächtige universale römisch-katholische Kirche dem Diktator ihre Hand zum hochpolitischen Gentlemen-Agreement, dem Konkordat, ausgestreckt hatte, blies hier eine winzige christliche Splittergruppe auf der Trompete von Jericho und verlangte im Verkündigungsstil allen Ernstes von Hitler, sich Jehovas Willen gänzlich zu unterstellen - mit der Zusage, sich dann neutral verhalten zu wollen, so wie sie es in anderen Staaten auch praktizierten. Während Hitler noch mit höflicher Neutralität behandelt wurde, scheute sich das Grüppchen nicht, dessen solventen Geschäftspartner, die römisch-katholische Kirche, als "Satan, unser großer Feind" zu bezeichnen.

Man distanzierte sich von den Vorwürfen, Unterstützung von Juden oder Bolschewisten zu erhalten, die dem Reichskanzler offenbar von "Satan" - der Kirche (n) - als Ohrenbläser eingeflüstert wurden. In der Tat bemühten sich die Kirchen seit langem, die "sektiererische" , vor allem aber stark missionierende Glaubensgemeinschaft offiziell vom Staat verbieten zu lassen. In der Weimarer Republik waren sie damit gescheitert. "Da Jehovas Zeugen nur für eine einzige Regierung eintreten - Gottes Königreich -, halten einige sie für staatsgefährdend. Damit tun sie ihnen jedoch großes Unrecht. In Nachahmung der Apostel Jesu sind Jehovas Zeugen "kein Teil der Welt" (Johannes 17:16). Sie verhalten sich in politischen Angelegenheiten neutral. Sie beachten die Gesetze menschlicher Regierungen, weil sie Gott gegenüber loyal sein möchten. Sie sind wirklich beispielhaft, was die Unterordnung unter die "Obrigkeitlichen Gewalten" angeht (Römer 13:1). Noch nie haben sie eine Rebellion gegen irgendeine menschliche Regierung befürwortet. Es gibt jedoch eine Linie, die unter keinen Umständen überschritten werden kann. Diese Linie zieht eine Grenze zwischen der Schuldigkeit der Zeugen gegenüber Menschen und ihrer Schuldigkeit gegenüber Gott. Sie geben dem Cäsar (das heißt den Regierungen), was ihm gebührt, doch Gott, was Gott gebührt (Matthäus 22:21)." ebd. 5-6 (Quelle: Erwachet! 22.August 1995, Der Holocaust. Wer erhob seine Stimme?, S.5-6)

Die von den Kirchen heute herausgehobenen Zitate der damaligen 'Erklärung' sind nicht antisemitisch oder antijüdisch einzuordnen, eher schon antiamerikanisch, im Grunde aber antiweltlich. Die Polemik gegen das anglo-amerikanische Weltreich mit seinem Großgeschäft (big business), das von den Handelsjuden (commercial Jews) aufgebaut wurde, muß im gesamten Kontext und als Übersetzung aus dem amerikanischen Originaltext gewertet werden.

Die Zeugen Jehovas wollten sich keiner irdischen Herrschaft unterstellen, aber sie sind "strikt neutral", von daher kann es sich gar nicht um "Anbiederung" bei Hitler handeln. Er wird nicht als "Führer" angesprochen, am Ende des Schreibens heißt es nicht "Heil Hitler", wie zu der Zeit in den meisten offiziellen kirchlichen Dokumenten an staatliche Behörden.

Die Erklärung vom 25. Juni 1933 enthält folgende klare Aussagen:

  1. Zurückweisung der Anschuldigung, von Juden oder Kommunisten finanziert zu werden
  2. Erklärung ihrer politischen Neutralität und rein religiösen Betätigung
  3. die Gegnerschaft zur (katholischen) Kirche, weil sie als politische Institution angesehen wird
  4. Feststellung, wahre Nachfolger Jesu Christi und seiner Jünger zu sein

Alle vorgebrachten Argumente werden durch Zitate aus der Bibel als einziger Autorität und Richtschnur für das Handeln von Zeugen Jehovas belegt. Es ist auch interessant, daß besonders darauf hingewiesen wird, daß die Zeugen Jehovas keine Kritik an den "aufrichtigen Religionslehrern" üben, sondern sich gegen "verkehrte religiöse Einflüsse in politischen Angelegenheiten des Staates" wenden. Man kann nicht einmal den Vorwurf erheben, daß sie gegen andere Glaubensinhalte der Kirchen polemisieren:

"Wir suchen niemanden zu hindern, zu lehren oder zu glauben, was ihm beliebt."

Deutlich wird jedoch die antiklerikale Haltung der Zeugen Jehovas, explizit nennen sie die katholische Kirche und die Jesuiten ihre Feinde. Eher naiv stellen sie heraus, daß ihre "amerikanischen Brüder das Werk in Deutschland fleißig unterstützen" , daß aber die Verweltlichung der Kirchen in Amerika verwerflich sei. Die scheinbare Übereinstimmung mit Hitler in der Haltung gegenüber dem Völkerbund leitet sich ebenso aus ihrem religiösen Weltbild her. Die in die Erklärung eingefügte Weltuntergangsprophezeiung, als zentraler Glaubenslehre der Gemeinschaft zu einem Zeitpunkt, da Hitler sich anschickte sein Tausendjähriges Reich aufzubauen, konnte nur als Kampfansage verstanden worden sein.

Wie wenig ihnen das antisemitische Vokabular der Zeit geläufig ist, beweist der unbefangene Umgang mit alttestamentlichen Zitaten, in denen 'Zion' vorkommt. Die Erklärung gipfelt in der Aussage, daß diejenigen, die gegen Jehovas Zeugen kämpfen, unweigerlich verlieren würden, da diese mit Gott im Bunde stehen.

"...was aber uns betrifft, so werden wir auf ewig Jehova dienen".

Sollte Hitler diese Erklärung je persönlich gelesen haben, so müßte einer seiner historischen Wutanfälle die Folge gewesen sein. Die im Bezug auf die Zeugen Jehovas ihm zugeschriebene Ausspruch "Diese Brut muß vernichtet werden", klingt daher sehr authentisch.

Wenn man den gesamten Text der Erklärung vom 25. Juni 1933 zusammen mit dem Brief an Hitler im Nachhinein in den Kontext der Geschichte der Zeugen Jehovas während des deutschen Nationalsozialismus, ihres religiösen Widerstandes und des Holocaustgeschehens, stellt, so geht es hier nicht um "antisemitische Äußerungen und Anbiederung an Hitler". Diese Vorwürfe aus heutigen kirchlichen Kreisen sind bewußte Manipulationen und geschichtliche Verfälschung, ihr Motiv ist offensichtlich das Unbehagen einer moralischen Unterlegenheit. Zu dem Zeitpunkt des Kongresses und noch viel später haben Regierungen, Staatsmänner, Diplomaten aller Länder mit Hitler verhandelt und ihm ihren Respekt und Reverenz erwiesen.

Noch 1936, als schon Tausende in den Konzentrationslagern eingesperrt waren, zu den ersten gehörten Zeugen Jehovas, fand in Berlin unter dem Hakenkreuz die internationale Olympiade statt.

Man kann das Dokument in seiner nach menschlichem Ermessen völlig unrealen Einschätzung der politischen Situation der Lächerlichkeit preisgeben. Davon gehen heute offenbar Kritiker aus Kirchenkreisen in Deutschland aus, die von strategischer Lenkung des Widerstandes durch die amerikanischen Leitung der Wachtturm-Gesellschaft sprechen. Dies ist ein säkularer Standpunkt, der mehr über den inneren Zustand der Kirchen aussagt als zur Wahrheitsfindung beiträgt. Die Kirchen waren und sind in den politisch en und sozialen Gegebenheiten des Staates verankert und damit selbst Teil der säkular- en Welt. Als Glaubensinstitution waren sie in der Zeit der NS-Herrschaft unfähig, nach den buchstäblichen biblischen Geboten zu handeln oder die Mehrzahl ihrer Mitglieder dazu zu motivieren. Nur wenige Einzelpersonen beider Kirchen blieben in solchem Handeln die Ausnahme.